Durchlässigkeit

am 30. August 2015

von Rosmarie Scheibler

 

 

 

1 WAS IST MIT DURCHLÄSSIGKEIT IM AIKIDO GEMEINT?

 

Durchlässigkeit ist neben Stabilität eines der Qualitätsmerkmale im fortschreitenden Aikido-Üben. 
Sie ist sowohl verteidigungstechnisch enorm spannend und wichtig, als auch für das gemeinsame Training eine große Bereicherung.

 

Durchlässig zu sein bedeutet auf körperlicher Ebene: Bewegungsimpulse durch den ganzen Körper durchgehen zu lassen. Vergleichbar mit einem Blitzableiter. Dafür ist die richtige Mischung aus Grundspannung und Entspannung eine wichtige Voraussetzung. Habe ich entweder zu wenig Grundspannung, oder ist diese unausgewogen (bin ich in manchen Körperbereichen verspannt), oder zu hoch, so können Bewegungsimpulse von außen, aber auch von einem zu einem anderen Körperteil schlechter durchschwingen oder durchfließen.

 

Durchlässig zu sein ist auch zu einem großen Anteil eine mentale Herausforderung. Es geht um eine Offenheit und hohe Achtsamkeit für den eigenen oder auch den gemeinsamen Bewegungsfluss. Um ein feines Spüren, Mitdenken, Aufnehmen, Nachgeben und Dranbleiben. Und darum, Impulse von außen oder innen wahrzunehmen unter Einbeziehung des ganzen Körpers klug und geschmeidig fortzuführen, weiter schwingen, fließen, durchgehen zu lassen.

 

 

2 WOFÜR IST SIE GUT?

 

Je durchlässiger ich bin, desto mehr Chancen bieten sich mir, zu lernen und Informationen aufzunehmen.

Blockaden, egal ob körperlicher, mentaler oder psychischer Art, stehen mir dabei sprichwörtlich im Weg. Je durchlässiger ich bin, desto mehr wertvolle Erfahrungswerte zu Hebeln, Krafteinsatz, Anspannung, Entspannung, Bewegungsenergie, und -richtung kann ich sammeln, und das meist oft, ohne zu reflektieren, sondern auf direkterem, körperlichem Weg. Und desto aufschlussreicher, lebendiger und intensiver wird das gemeinsame Training. Als durchlässiger Uke kann ich Tori mit der Art, wie ich mich von ihm gelenkt bewege, in gewisser Hinsicht ein körperliches Abbild seines Übens sein.

Verteidigungstechnisch ist Durchlässigkeit eine Stärke, die mich schützen kann. Nicht ein Panzer schützt mich in diesem Fall, sondern das Gegenteil. Bei verbalen Unannehmlichkeiten gibt es die Redewendung: „zum einen Ohr rein, zum anderen wieder raus...“. Ähnlich kann auch eine körperliche Verteidigungsstrategie aussehen: Ich halte mich soweit entspannt, dass der Partner kein streitbares Gegenüber, keine Reibungspunkte, nichts zum „andocken“ vorfinden kann. Seine aufgebrachte Energie lasse ich weich durch mich hindurch laufen.

 

Es ist wichtig, Durchlässigkeit als variable Größe zu pflegen. So kann ich mich bei Partnern, z.B. auf externen Aikido-Veranstaltungen, deren Üben ich nicht einschätzen kann, durch eine gewisse Festigkeit vorsichtshalber schützen. Bei anderen Übenden, denen ich vertraue, bzw. die respektvoll und gewaltlos mit mir umgehen, kann ich mich dagegen ganz leichtgängig den Bewegungsimpulsen hingeben.

 

 

3 IM TRAINING

 

In der Bewegungsmeditation bietet sich das Pendeln mit geschlossenen Augen und das Schütteln der Hände besonders an, um die Durchlässigkeit im Körper zu vertiefen. Aber auch alle Atemübungen eignen sich bestens. Mit Hilfe des Atems kann man sich nicht nur den Brustkorb oder Bauchraum erschließen, sondern versuchen, den Atem weiter durch den ganzen Körper von Kopf bis Fuß fließen zu lassen.

 

In den Modelltechniken ist die Rolle des Uke prädestiniert, um Durchlässigkeit zu üben. Durchlässigkeit als Mitgehen, Folgen, Bewegungsfreude, Leichtigkeit, Hingabe.

Jeder Impuls von Außen kann registriert und aufgenommen, weitergeleitet und umgesetzt werden. Entsprechend der Stärke, Richtung, des Schwungs, der Deutlichkeit oder Subtilität der ankommenden Energien ergeben sich für Uke immer neue, einzigartige Bewegungsabläufe.

 

Für Tori ist Durchlässigkeit ganz konkret im ersten Moment des Kontakts brisant und wichtig. Um so viele Informationen wie möglich über den Angreifer aufzunehmen und zum Gehirn durchzulassen. Und um gleichzeitig körperlich keinerlei Blockade oder Gegenwehr darzustellen, sondern besonders im Jiyu-Waza die ankommende Energie geschmeidig aufzunehmen und umzulenken, oder eben, wie ein Blitzableiter zu neutralisieren. Auch im Verlauf der Modelltechnik lohnt es sich, durchlässig zu bleiben. So kann das eigene Handeln mit den sich ändernden und immer wieder neu dazukommenden Informationen auf den neuesten Stand gebracht und auf die Zielsetzung im Aikido hin überprüft und angepasst werden: sich selbst zu schützen, ohne den Anderen zu verletzen.